Montag, 23. Dezember 2013

Canadier als Kulturphänomen

Dies ist einer von mehreren seit längerem liegen gebliebenen Aufsätzen. Diese Aufsätze sind nicht unbedingt fertig geschrieben. Aber an dieser Stelle kann so etwas ja schon mal im Rohzustand veröffentlicht werden - eine andere Stelle wird sich vermutlich sowieso nicht finden. Zumindest will ich mir die Mühe sparen ein anderes Veröffentlichungsmedium zu suchen.


Canadier als Kulturphänomen - Ästhetisierung oder Sport? - eine “andere” Kulturgeschichte

Die Herkunft der Bootsgattung


Im Gegensatz zu Wildwasserkajaks, bei denen es sich um eine historisch sehr junge Bootsgattung handelt, haben Seekajaks und Canadier eine lange Tradition, die weit in gewissermaßen „vorhistorische“ Zeit zurückreicht. Diese Bootsformen wurden von indigenen Völkern entwickelt und im Lauf der Jahrhunderte auf eine Reihe von Einsatzzwecken und regionalen Anforderungen hin optimiert.

Canadier entstammen den nordamerikanischen Wäldern mit ihren ausgedehnten Fluss- und Seensystemen. Die Boote wurden leicht gebaut weil mit ihnen Reisen über weite Strecken unternommen wurden, die immer wieder Portagen, also Passagen beinhalteten, auf denen die Kanus getragen werden mussten. Deshalb sind Canadier auch offene Boote: sie müssen be- und entladen werden und es ist erforderlich sie alleine über weitere unwegsame Strecken tragen zu können.

Die Bootsform wurde daraufhin optimiert, dass mit den Booten zielgerichtet Reisen unternommen werden konnten. Das heißt, es mussten lange Strecken gegen die Strömung von Flüssen zurückgelegt werden. So entwickelte sich die lange schmale Bootsform, die strömungsgünstig und dennoch hinreichend voluminös für den Transport von Menschen und Ausrüstung war.

Als Baumaterial wurden gespaltene Hölzer für den Rahmen und Rinde als dichtes und zähes Deckmaterial verwandt. Die Boote wurden von außen nach innen gebaut. Das heißt geeignete Rinde wurde ausgebreitet, an den Rändern nach oben gezogen, ein Süllrand angebracht, Holzrippen eingefügt und zwischen Rippen und Rinde schmale Holzstreifen eingefügt, die für zusätzliche Stabilität und Steifheit sorgten. Diese Bauweise hat sich in Jahrtausenden entwickelt und erst in der Neuzeit kam es zur Verwendung anderer Materialien. Zunächst fand während der Erschließung des nordamerikanischen Kontinents eine Verschmelzung europäischer und indianischer Bootsbautechniken statt. Die gewerblich genutzten Boote wurden größer, geeignete Rinde wurde knapp. Wood-Canvas Boote entstanden und dienten anfangs vorwiegend dem Warentransport. Teilbare Boote entstanden damit die zunehmend größeren Boote tragbar blieben. Später wurden auch geklinkerte Boote gebaut. Nach bzw. während der Weltkriege wurde Aluminium in den Kanubau eingeführt und erst darauf kam es zur Einführung unterschiedlicher Kunststoffe. Die Massenproduktion von Canadiern wurde durch die Abwendung von Naturmaterialien erst ermöglicht und die meisten Canadier, die es gibt, bestehen inzwischen aus unterschiedlichen Laminaten oder petrochemischen Kunststoffen.

Die Ausdifferenzierung spezieller Bootsformen


Die Wahl neuer Materialien hatte Auswirkungen auf die Bootsform. So wurden Boote aus Aluminium stets symmetrisch gebaut weil ausschließlich gleiche Bootshälften aus einer Pressform aneinander genietet wurden.  Kunststoffe – insbesondere Laminate – ermöglichten mehr Formvielfalt, Sandwichmaterialien (z.B. Royalex) ermöglichten wiederum keine engen Kurvenradien. Holz als Sandwichmaterial fand weiterhin Anwendung: quasi karwelbeplankte „Woodstripper“ wurden und werden in einer Vielzahl von Formvarianten teils professionell – aber vor allem – in Heimarbeit gebaut.

Mit den neuen Materialien und der Massenproduktion änderte sich auch die Verwendung von Canadiern. Sie waren nicht länger ein Hilfsmittel für Mensch- und Gütertransport sondern dienten dem Freizeitvergnügen. Flussreisen gegen die Strömung wurden zur Ausnahme. Techniken wie Poling (stehendes Staken zur Überwindung von flachen Strömungspassagen oder kleinen Stromschnellen) gerieten fast in Vergessenheit.

Parallel zum Aufkeimen von Wildwasserkajaks entwickelten sich bei den Canadiern Soloboote und Bootsformen die für die Verwendung im Wildwasser geeignet waren. Mischformen offener und geschlossener Boote entwickelten sich und Wettbewerbsboote wurden so perfektioniert, dass sie mit der ursprünglichen Bootsform von Canadiern keine erkennbare Verwandtschaft mehr aufweisen.

Die kulturellen Einflüsse von und auf Canadier/n


Die ursprünglichen indianischen Boote waren Nutz- und Verbrauchsgüter. Sie dienten dem Reisen zu jahreszeitlich günstigeren Jagdrevieren, wurden an Ort und Stelle gebaut und repariert und bestanden ausschließlich aus nachwachsenden Rohstoffen, die lokal verfügbar waren. Sie wurden sorgfältig behandelt weil ihre Herstellung und Pflege mit Mühen verbunden war aber sie waren Werkzeuge, die unter den rauen Bedingungen der nordamerikanischen Wälder einem großen Verschleiß ausgesetzt waren. Deshalb war die Erleichterung von Bootspflege und -reparatur ein Teil des Konstruktionsprinzips und selbstverständlicher Anteil des Tageablaufs bei Fluss- und Seereisen.

Die Voyageure, deren Pelzhandel den nordamerikanischen Kontinent erschloss, nahmen diese Konstruktions- und Lebensweise gewissermaßen auf. Sie durchquerten große Teile des Kontinents in monatelangen Reisen. Ihre Boote, in deren Bauweise allmählich europäische Bootsbaukunst einfloss, mussten harten Beanspruchungen standhalten und wurden auf der Reise instand gehalten und repariert. Auch sie bestanden aus Naturmaterialien.

Der Lebensstil der Voyageure bildete eine kulturelle Sonderform aus, die diese Gruppe von anderen gesellschaftlichen Gruppen ihrer Zeit und Region abhob. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die mit kurzen Paddeln (die oftmals unterwegs entstanden) und fest definierten Gepäckmengen und -formen einen straffen Tagesrhythmus absolvierten. Sie entwickelten einen eigenen Kleidungsstil der an das Leben in den Wäldern Nordamerikas angepasst war und sie von anderen Gruppen abhob.

Später, als Canadier nicht mehr vorwiegend Reisevehikel waren, wurden sie in Camps für Angel- und Jagdausflüge verwandt und in Kinder- und Jugendferienlagern für kleine Nachmittags- oder Mehrtagesausflüge eingesetzt. Stilprägend für eine “Canadierkultur” war diese Epoche nicht unbedingt aber sie hatte doch starken Einfluss auf ganze Generationen der – vor allem wohlhabenden – nordamerikanischen Bevölkerung. In Jagd- und Angelcamps entwickelten sich die tagsüber als Transportvehikel eingesetzten Boote abends zu Unterhaltungsinstrumenten, in denen Tricks gezeigt und Wettbewerbe ausgeführt wurden. Erstmalig wurden Canadier als Soloboote eingesetzt und damit wurden die Grundlagen zu Stilrichtungen wie Freestyle, Canadianstyle, aber auch zur Nutzung von Canadiern für den Wettkampfsport gelegt.

Parallel zum Einsatz von Canadiern in Camps am Rande der Wildnis entwickelte sich um die Jahrhundertwende in den Randgebieten nordamerikanischer Städte eine Kultur der Wochenendausflüge in Canadiern. Was in den Sechzigerjahren Papas Straßenkreuzer war, war in dieser früheren Epoche der Canadier, in dem junge Paare der Aufsicht der Erwachsenen entfliehen konnten. Es gibt Bilder, auf denen in komfortabel ausgestatteten Holzcanadiern (nicht selten in Klinkerbauweise) feine Damen in Rüschenkleidern und mit Sonnenschirm von adrett gekleideten jungen Männern über Flüsse und Seen gepaddelt werden. Was aus dem züchtigen Anschein wurde, wenn die Grenzen der urbanen Randregionen verlassen wurden ist weniger gut überliefert und bleibt unserer Vorstellungskraft überlassen.

Die Nutzung der Boote in Jagd- und Angelcamps sowie ihre Nutzung in Feriencamps setzt sich bis heute fort. Ihre Bedeutung für die Flucht aus bürgerlichen Konventionen hat sich etabliert. Heute gelten Canadierreisen als abenteuerliche Unternehmungen, die lange geplant und gerne aufwändig dokumentiert werden und um die sich ein regelrechter Markt für Campingzubehör und Ausrüstung entwickelt hat.

Abgekoppelt davon hat sich - als Randerscheinung und dennoch höchst öffentlichkeitswirksam - eine Kultur des Leihbootpaddelns entwickelt. Sie beinhaltet - stark verkürzt - das Ausleihen eines Bootes für einen Tag um damit mehr oder weniger angeheitert einen Fluss hinunter zu dümpeln.

Die Situation im organisierten Kanusport


In deutschen Kanuvereinen spielen Canadierpaddler selten eine bedeutsame Rolle. Sie gelten vielfach als behäbige Wanderfahrer, die in ihren Booten überwiegend Tagestouren auf ruhigen Flussabschnitten absolvieren. Daneben wird in wettbewerbsorientierten Vereinen Canadierrennsport oder auch Abfahrts- und Slalompaddeln nach fest umrissenen Regularien betrieben. Dass es sich bei den dafür eingesetzten Booten um Canadier handelt erkennt der unbefangene Betrachter nur noch am Stechpaddel. Erstaunlich aus Sicht von Breitensportlern ist, dass über die Sportförderung des Bundes und der Verbände gerade in diese Teilsparten besonders viel Geld und personeller Einsatz fließen.

Dass es auch technikorientierte Freizeitpaddler gibt, die in zunehmend kürzeren offenen Booten im Wildwasser unterwegs sind, kann angesichts ihrer Anzahl fast als Randerscheinung angesehen werden. Dabei ist gerade in dieser Disziplin ein beachtliches Potential zu erkennen: Im Wildwasserpaddeln in offenen Booten  vereinen sich Bootsbeherrschung, Kondition und Koordination, Sicherheitstechniken und Kenntnisse  über Fluss-und Strömungsverhältnisse und ökologische Ansätze wie in keiner anderen Teildisziplin des Canadiersports. Die sich aus diesem Teilsegment des Canadiersports ableitende „Kultur“ unterscheidet sich jedoch kaum von der des Wildwasser-Kajakpaddelns.

Es sind die Bereiche des Wanderpaddelns und die Flachwasser-Freestyle-Szene in denen sich eine ästhetisierende Kultur entwickelt hat, für die in gewisser Weise die kurze Phase der Voyageurswirtschaft in der Zeit der kontinentalen nordamerikanischen Wirtschaftsexpansion stilprägend war. Vor allem in der Ausstattung mit Transportmitteln und der Campingausrüstung wird erkennbar, dass Canadierpaddeln in diesem Segment eine Stil- und Kulturfrage ist. Da werden Leinen- und Baumwollpacks transportiert (mit denen wasserdichte „Liner“ verborgen werden), Baumwoll-„Tipi“-zelte meist nordeuropäischer Prägung (zentrale Mittelstange) gelten als inoffizieller Mitgliedsausweis dieser – den konventionellen Vereinen eher skeptisch gegenüber stehenden – Gemeinschaft. Erbitterte Diskussionen über Zeltöfen und gusseiserne Töpfe werden in den einschlägigen Foren geführt. Die Verwendung der stilistisch angemessenen Zeltlampe kann sich zu einer Kern- und Glaubensfrage entwickeln, der sich Fragen zu Bootsformen und -verwendung zeitweilig unterordnen müssen.

Deshalb kann konstatiert werden, dass diese Form des unterhaltsamen „Reenactments“  der Voyageursepoche oder eines hoch idealisierten Trapperstils vorwiegend die äußerlich sichtbaren Attribute (Kleidung und Ausstattung) umfasst. Der Einsatz von Canadiern als Fortbewegungmittel rückt in dieser Szene jedoch immer mehr in den Hintergrund. Da finden Wintercamps oder Canadiertreffen statt, auf denen gelagert, gefachsimpelt und gelegentlich ein meist Freestyle-orientiertes Techniktraining in Booten absolviert wird. Stehende flache Gewässer sind hierfür erforderlich. Canadierreisen werden zur seltenen Ausnahme. Reisen gegen die Strömung finden überhaupt nicht statt.

Man kann das beklagen oder sich damit abfinden, dass in unserem industrialisierten Milieu eine Rückkehr zu über zweihundert Jahre alten Kulturtechniken schwerlich praktikabel ist. Es zeichnet sich darin ein gewisses Beharren auf idealisierten Kulturformen ab, die inzwischen wenig Realitätsbezug haben. Die dort betriebene „Traditionspflege“ hat allerdings auch keine Anknüpfung an eine wirkliche Tradition sondern bezieht sich auf eine zeitgeschichtlich stark begrenzten Epoche in einem weit entlegenen Kulturraum. Es handelt sich schlicht um romantisch verklärtes Reenactment.

Neue Formen und neue Chancen


Der Zubehörmarkt für zeitgemäße tourentaugliche Ausrüstung zielt nicht gerade auf Canadierkreise ab aber wer heutzutage eine Canadierreise im Geist der Voyageure unternehmen will wird keine gusseisernen Kochutensilien und triefend nassen Baumwollrucksäcke mitführen. Stattdessen finden Gepäcktonnen und wasserdichte Rollsäcke aus beschichtetem Planenmaterial Anwendung. Allerlei ausgeklügelte für mehrere Anwendungsbereiche nutzbare Ausrüstungsgegenstände wurden entwickelt, die für längere Reisen eingesetzt werden. Dabei kann es sich um Flussexpeditionen in unseren industrialisierten Breiten oder auch um Fahrten in der abgelegenen Wildnis Nordamerikas oder Sibiriens oder bereits schon Skandinaviens handeln.

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1 Kommentar:

  1. "Kultur des Leihbootpaddelns"
    na also den Begriff möchte ich in Frage stellen. Damit würde, wenn man den wohl gängigen Sprachgebrauch zugrunde legt, etwas geadelt, was für meine Begriffe schlicht verboten gehört. Wo die Leihboote auftauchen, sind die Sperrungen nicht weit.
    Das Wort Praxis passt vermutlich besser, wenn man es neutral will. "Unsitte des ..." würde mir noch besser gefallen. Ähm: Da wurde doch mal über Benidickson räsoniert. Dir ist doch schon klar Axel, dass dieser schöne und gehaltvolle Aufsatz genau in die Richtung geht!?! Nimm es mir nicht übel, ich ziehe Benidickson vor. In so einem blog-Rahmen ist es natürlich ziemlich schwer, das Thema sinnvoll abzuhandeln, wo es doch zudem Bücher gibt wie das prachtvolle Werk von Kenneth Roberts und Philip Shackleton gibt.
    „Geist der Voyageure“: Die Voyageurs würde ich äußerst kritisch sehen, vor allem haben sie keine eigene Kultur geschaffen, sondern diverse hochgezüchtete Bootstypen fremdbestimmt auf Anweisung von schottischen Ausbeutern oder Yankees gepaddelt, wobei sie sich selbst und auch einen halben Kontinent ausgebeutet haben. So ein paar bunte Zipfelmützen und kecke Pfeifchen im Mundwinkel sollte man auch nicht mit Kultur gleichsetzen, das sind heute romantisch wirkende Gimmicks. Ich sehe das nur als Bestandteil einer Entwicklung, die heute nahtlos zur Zerstörung der Umwelt durch Fracking führt. Kurz nach Ende der eigentlichen Voyageur-Zeit wurden deren Leute gnadenlos unterdrückt, Stichwort Louis Riel.
    Nichts für ungut, aber wenn man es grundsätzlich angeht, dann halt auch ganz und nicht halb.
    Schöne Grüße
    Thomas

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